Was ich über die Wärme Rios in meinem Blog geschrieben habe, muss teilweise revidiert werden. Es wird doch kalt hier. Anscheinend nicht in jedem Jahr, aber in diesem auf jeden Fall. Schon seit Wochen benutze ich Pullover und leichte Jacken und habe sogar bereits einmal die AR QUENTE, die Heizung in meinem Auto ausprobiert.
Persönlich habe ich das Gefühl bzw. die Illusion eines globalen Sommers, der momentan etwas schwächelt. Das Wetter war in Flensburg dem in Rio im Juli zum Verwechseln ähnlich und wieder zurück in Brasilien ist es eben pulloverkalt. Zusammen mit den verfärbten Blättern an den Bäumen und auf den Straßen ist mein Jahreszeitensensor davon überzeugt, dass der Herbst unmittelbar bevorsteht und damit verbunden kurze Tage und lange Nächte. Bin ich überhaupt in Rio? Im Fernsehen läuft Hamburg gegen Schalke in HD, nur der brasiliansiche Kommentator erinnert daran, dass ich weit weg bin, während aber mein ganzer Körper doch im Heimatmodus läuft.
Diese schnelle Switchen zwischen Kontinenten kann verwirren. Fliegen ist schon ein Wunder, oder? Ich habe es gerade ziemlich satt und bin froh, dass vorerst kein neuer Flug geplant ist. Zwar finde ich die Flughafenatmosphäre spannend. Ich mag diese künstlichen, polierten Orte mit dem Flair der weiten Welt und unbegrenzten Reisemöglichkeiten. "Terminal" von Steven Spielberg ist einer meiner Lieblingsfilme. Als Sitzriese fühle ich mich aber spätestens im Flugzeug bestenfalls wie Stückgut. Auch die Demütigung, die jeder, der sich wie ich nur Holzklasse leisten kann, erlebt, wenn er durch die 1. Klasse vorbei an mitleidsvoll blickenden Passagieren in ihren ausladenen Schlafsitzen drängt bis er an seinem Platz auf einer Dreierbank ankommt, ist ätzend. Gibt es in der zivilisierten Welt eine krassere, offenere Trennung zwischen Mittel- und Oberschicht? In der Holzklasse verpufft der Flair des Fliegens wie im Flug.
Letzte Woche war ich dienstlich in São Paulo. Alle sieben Minuten fliegt ein Jet von Rio nach São Paulo und umgekehrt. Mit großen Linienflugzeugen auf großen Flughäfen starten und landen ist eine Sache, der kleine Cityflughafen Santos Dumont in Rio de Janeiro eine andere. Die Landebahn grenzt direkt an die Guanabarabucht und ist ziemlich kurz. Das Flugzeug startet - so kam es mir vor - nach kurzer sehr heftiger Beschleunigung direkt aus dem Stand und zieht steil hoch. Die Landung in São Paulo (nach nur 47 Minuten Flugzeit) ist atemberaubend. Das Flugzeug fliegt im Tiefflug über die Stadt, so tief, dass man die Automarken der Wagen auf den Straßen zu erkennen glaubt. Es dauert ewig, bis inmitten der vielen Gebäude wie durch ein Wunder eine Landebahn erscheint.
Mein Rückflug am selben Tag hatte erhebliche Verspätung. Warum? Ein kleines Flugzeug, ein sogenanntes Flugtaxi, hatte wenig später, nachdem ich von dort heil weggekommen war offenbar Schwierigkeiten mit der kurzen Start- und Landebahn in Santos Dumont und war direkt in der Verlängerung derselben in die Bucht gerutscht. Zum Glück überlebten alle Passagiere, aber der Flughafen war für 5 Stunden gesperrt.
In São Paulo gab es deswegen einen richtigen Stau von Flugzeugen auf der Start- und Landebahn. Kaum war ein Flugzeug gelandet, startete das nächste aus der Warteschlange. Diejenigen von Euch, die täglich oder wöchentlich von Rio nach São Paulo fliegen, mögen angesichts meiner Schilderungen gelangweilt oder müde lächeln, aber ich kann mich nicht daran erinnern, etwas Vergleichbares in meinem Leben gesehen zu haben, wie das riesengroße São Paulo bei Nacht aus der Perspektive eines 15minütigen Tiefluges.
War das Starten von Santos Dumont schon eine Sache für sich, kann ich die Landung dort nur als harte Nervenprobe für hartgesottene Vielflieger bezeichnen. Die Maschine fliegt über den Stadtteil Flamengo so tief und vor allem LANGSAM, dass es unfaßbar zu sein scheint, dass die Flügel nicht die Blumenkästen von den Balkonen der Wolkenkratzer reißen. Vom Wasser aus betrachtet wirkt das ganze weniger dramatisch, wie man auf meiner Fotomontage hier sehen kann: Es ist die letzte Phase des Landeanfluges auf Santos Dumont zu sehen (in Wirklichkeit handelt es sich natürlich nur um ein Flugzeug, so eng ist der Luftraum über Rio dann auch nicht), die ich im vergangenen Jahr von einem Segelboot aus aufgenommen hatte.
Über São Paulo selbst kann ich nur wenig schreiben. Zu kurz war mein Aufenthalt dort. Vielleicht gibt die Auswertung dreier Taxifahrten einen klitzekleinen Aufschluss.
Die erste Fahrt vom Flughafen in São Paulo zum Colégio Humboldt, wo eine Tagung stattfand, war vom Mitleid eines sehr freundlichen Chauffeurs begleitet. Ich tat ihm leid, da ich aus dem schrecklichen Rio de Janeiro kam und dort sogar wohnen musste. Rio sei wahnsinngig gefährlich, er wäre einmal dort gewesen, aber es habe ihm überhaupt nicht gefallen, außerdem könnte man dort weder ordentlich arbeiten noch Geld verdienen.
Video Fahrt 1:
Die zweite Fahrt: Der junge Fahrer, der mich vom Colégio zurück zum Flughafen brachte, gab schon nach den ersten Metern der Fahrt zu, dass es sein größter Traum sei, einmal in Rio de Janeiro leben zu können. Obwohl er von einem kürzlich erfolgtem Überfall durch einen Motorradfahrer auf sein Taxi berichtete (ihm wurde das Portemonnaie abgenommen), war auch er davon überzeugt, dass Rio wesentlich gefährlicher wäre, als São Paulo. Ich erzählte ihm von den Sorgen meiner Frau, die große Angst hatte, weil ich allein in dem aus ihrer Sicht weit gefährlicheren São Paulo unterwegs war.
Video Fahrt 2:
Einen Wutanfall bekam der Fahrer der dritten Fahrt, nachdem ich ihm von der Verunglimpfung Rios durch den ersten Fahrer in São Paulo berichtet hatte. Er schrie schon fast: "Sie mal, Chef (so redete er mich wirklich an), guck mal links aus dem Fenster (wir passierten gerade den nächtlich beleuchteten Praia von Botafogo, im Hintergrund der Zuckerhut), das ist RIO DE JANEIROOOO. Guck, wie schön es hier ist! In São Paulo haben sie gar nichts, nur Gebäude und Gebäude." Er selbst war schon einmal in Florianopolis und könne zugeben, dass es dort noch schöner sei, als in Rio. Die Paulister könnten das nicht und würden sich deshalb immer den Mund über Rio zerreißen. Ich gab ein ordentliches Trinkgeld und wir gingen als Freunde auseinander.
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Juergen Kuehn (Dienstag, 24 August 2010 19:00)
Lieber Robert,
meine Frau u. ich sind begeistert von Deinem Bericht. Doch wir streiten uns ueber Fliegen: ich teile Deine Meinung ueber Holzkl. usw., waehrend Uta Fliegen an sich herrlich findet. Ueber Rio u. SP koennen wir zum Glueck nicht streiten, weil nur ich beide Staedte als Tourist kenne. In
SP war ich von den mehrspurigen Stadtautobahnen begeistet,
ass Schweinehaxen und trank bayrisches Bier in einem dt. Restaurant, aber in Rio waren die Copa usw. einmalig. Wir beneiden Dich um Sommer/Winter/Herbst/Fruehling in LA und Flensburg, hatten die besten Ferien in MeckPom und freuen uns jetzt am stillen Bonn. Uta hatte eine sehr froehliches Gespraech mit Arthur, der uns wg. des guten Kontakts mit Euch lobte. Chris u. Jutta trafen Claudia u. Atta in Timmendorf. Liebe Gruesse an Euch alle
Dein Juergen