Endlich eine Regenpause. Ich ziehe meine Jacke an, wild entschlossen, wenigstens eine homöopathische Bewegungseinheit in diesen Donnerstagnachmittag einzubauen: Einen Spaziergang! Zu Beginn dieser Einheit noch ein wichtiges dienstliches Telefonat mit einer Mitarbeiterin, als Warming-Up-Phase und auch zur Beruhigung, da sich schnell herausstellt, dass die dienstlichen Dinge so gelaufen sind, wie erhofft. Also los, ohne Sorgen!
Ich erschrecke vor der ersten großen Thermometeranzeige: 22 Grad! Ich habe mir fest vorgenommen, nicht mehr über Wetter nachzudenken. Aber wie kann ich mich so einer intensiven inkongruenten Sinneswahrnehmung verweigern? Ich fühle Winter, verknüpfe aber mit 22 Grad eindeutig Sommer. Schon kann ich mich dem Thema wieder nicht mehr entziehen. Beobachte Einheimische, die wie ich Jacken oder wenigstens Pullover tragen und staune über die Touristen in kurzen Hosen und T-Shirts. Es ist kaum möglich, das Äußere einmal außen zu lassen und sich beim Spazieren auf innere Gedanken einzulassen, die mit Rio oder Wetter nichts zu tun haben. So schön es hier ist, Rio de Janeiro ist dominant und lässt es nicht leicht zu, dass du dich auf etwas anderes konzentrieren kannst, als auf diese eitle Stadt.
Der Wind steht ungünstig heute. Obwohl ich nur zwei Straßenzüge vom Atlantik entfernt bin, kommt mir der Smog unerträglich vor. Ich stehe an der Ampel und gebe das Luftanhalten wieder auf, die Rotphase ist dafür zu lang. Als es endlich grün wird, staune ich auch nach dreieinhalb Jahren hier in Rio immer noch darüber, wie viele Menschen nicht wie ich gleich loshetzen, sondern noch ein bisschen weiterträumen, bevor sie über die Straße gehen. Die Einheimischen träumen und träumen. Manchmal erwische ich mich selbst auch dabei und schiebe es dann gleich auf das Wetter, die Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit.
Mit dem grauen Himmel ist die Avenida Atlantica, die sechsspurig die urbane Atlantikküste des Stadtteils Copacabana säumt, nur deshalb von großstädtischer Tristesse zu unterscheiden, weil sich weiter hinten riesige Wellen brechen und so die für Rio typische Dramatik erzeugt wird. Trotzdem erinnern mich die Strandkioske heute entfernt an Autobahnraststätten. Strammen Schrittes lasse ich die Strandkioske an mir vorbeiziehen. Obwohl mir langsam warm wird, behalte ich die Jacke trotzig an. Es ist Winter, basta. Die Strandverkäufer mit ihren Rio-Nummernschildern, Mützen und Rio-Regenschirmen kenne ich alle vom Sehen. Sie hätten heute zu Hause bleiben können. In Leme angekommen bekomme ich Durst und will mir eine Kokosnuss kaufen. Im Portomonnaie ist aber nur ein 50 Reais Schein und die Frage nach Wechselgeld hätte ich nun wirklich nicht stellen müssen. Jedenfalls nicht zweimal, das war nicht nötig! Am dritten Kiosk frage ich deshalb nur nach Wasser, das etwas billiger, aber mit 3 Reais immer noch ganz schön teuer zu sein scheint. Der Verkäufer akzeptiert die 2 Reais 30 Cent, die ich ihm anbiete, mehr habe ich nicht klein. Ich nehme zwei Schlucke und schlage den Rückweg ein.
Mein Telefon klingelt, es ist meine Tochter Isabell. Sie ruft aus Deutschland an, die Weiterleitungsfunktion von Skype macht solche Verbindungen möglich. Selbst während des Gespäches bleibe ich aber mental in Rio, sehe Isa hier neben mir und kann mir Deutschland weiter nicht vorstellen. Isa erinnert mich daran, dass heute in Deutschland Vatertag ist. Sie rät mir, Rio zu genießen und berichtet von ihrem starken Heimweh nach Brasilien. Wieder Rio! Die Verbindung reißt ab.
Ich wechsele die Straßenseite und gehe am Copacabana-Palace vorbei. Wenig später kommen mir zwei brötchenessende Straßenkinder entgegen. Habe schon lange keine mehr hier gesehen. "Oi tio, pode tomar um pouco de sua água?" Meine Wasserflasche wechselt die Besitzer.
Am Ende meines Spazierganges habe ich noch einen Auftrag zu erledigen: Einkaufen. Der Supermarkt ist hell, freundlich - vielleicht etwas eng. Erinnert an Edeka und heißt hier Pão de Açúcar (Zuckerhut, genaugenommen Zuckerbrötchen). Ich sehe auf dem großen Kassendisplay, dass ich 11 Produkte ausgewählt habe. Der ebenfalls angezeigte Endpreis sprengt meine Vorstellungskraft und findet in keinem meiner Koordinatensysteme eine Zuordnung zu dem von mir gefühlten Wert der erworbenen Waren. Ich bezahle mit Kreditkarte und versuche zu verdrängen. Der Kassierer (sonst sind es immer Kassiererinnen) packt die Waren gleich ein. In hauchdünne kleine Plastiksäckchen (Es gibt in Rio keine richtigen Plastiktüten, nur diesen Hauch von Plastik überall. Für jeden etwas schwereren Artikel, z. B. einen Tetrapak Milch, benötigt man mindestens zwei übereinander gestülpte Säckchen, was heißt, dass solche Artikel doppelt eingepackt werden müssen. Der Kassier- und Einpackvorgang dauert deshalb erheblich länger, als in Deutschland).
Inzwischen ist es dunkel geworden. Die Bürgersteige sind von Menschen überfüllt, ohne die Mitnutzung der Fahrbahn ist ein Fortkommen nicht möglich. Die meist dreispurigen Einbahnstraßen sind aber schon mit Autos verstopft, die auf Fußgänger KEINE Rücksicht nehmen. Es gibt keinen Platz! Mit meinen sechs übereinander gestülpten Einkaufssäckchen samt elf Artikeln bahne ich mir einen Weg durch die Massen. Es ist gedrängemäßig so, wie auf einem Rockkonzert. Jetzt kann man nicht mehr träumen. Konzentration ist gefordert, sonst wird man herbe angerempelt oder WIRKLICH überfahren!
Das ist Rio. Jedenfalls der Stadtteil Copacabana. Ich lebe hier und bin oft genervt. Aber eines weiß ich trotzdem schon jetzt: Ich werde das alles einmal wahnsinnig vermissen, genauso, wie viele meiner Freunde es tun, die aus Rio nach Deutschland zurückgekehrt sind.
Rios Dominanz kann sich kaum jemand entziehen. Sie ist natürlich, aber auf Dauer auch nervig.
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lygia (Sonntag, 03 Februar 2013 19:37)
Que posso dizer,adorei a narrativa a descrição perfeita dos acontecimentos dos momentos.